„Es ergeht folgender Beschluss:

Die am 16.05.2003 vor dem Standesamt Berlin-Charlottenburg geschlossene Ehe zwischen den Parteien Reinhard Beckers und Carla Beckers, geborene Schlüter, wird hiermit geschieden. Das Urteil geht den Anwälten auf dem Postwege zu. Die Verhandlung ist geschlossen.“

Kaum ausgesprochen, erhebt sich der Richter, rafft seine Unterlagen zusammen und verlässt den Saal durch die Tür, die hinter dem Richtertisch direkt in sein Büro führt. Dort wird er sich als erstes von der schwarzen Robe befreien, vermutlich trägt er darunter Jeans und ein kurzärmeliges Hemd, denn draußen ist Hochsommer und die Temperatur beträgt jetzt schon, um halb zwölf, mindestens 32 Grad.

Das war es also. Das ist der förmliche Schlussstrich unter einen Lebensabschnitt, der eigentlich auf unbefristete Zeit angelegt war. Gezogen von einem Menschen, der mit uns und unserem Schicksal nichts zu tun hat, dem unser Fall willkürlich zugeteilt worden war, darauf sind wir nun reduziert, Reinhard und ich, auf einen Fall. Wir treiben die Scheidungsstatistik in Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr um ein kleines Stückchen in die Höhe. Dabei habe ich erst kürzlich gelesen, dass die Scheidungsrate in den letzten Jahren leicht rückläufig ist. Leider haben die Statistiker uns beide nicht berücksichtigt.

Meine Anwältin räuspert sich. „Wir sind fertig, wollen wir uns kurz draußen unterhalten?“ Sie ist sehr nett, noch jung, Anfang dreißig vielleicht, schlank, blond, auf eine unaufdringliche Art hübsch. Ich habe sie heute Morgen zum ersten Mal gesehen, sie ist eine sogenannte Korrespondenzanwältin, denn meine Berliner Anwältin ist hier, in Köln, natürlich nicht zugelassen. Sie hätte die Strapaze der Reise vermutlich auch nicht auf sich genommen. Frau Weyers heißt diese hier, glaube ich zumindest. Ist ja auch egal. Wenn ich gleich aus diesem Gebäude heraus bin, werde ich sie nie wieder sehen.

Ich schaue mich um. Reinhard und sein Anwalt sind bereits aufgestanden und schütteln sich jovial die Hände. Ihre Unterhaltung dreht sich allerdings nicht um die gerade vollzogene Scheidung, sondern ich höre etwas von „Festkomitee“ und „Künstler buchen, es wird dringend Zeit, sonst ist der für die nächste Session schon komplett ausgebucht“.

Natürlich, wir sind in Köln, im Herzen des rheinischen Karnevals, um den sich auch außerhalb der tollen Tage im Winter nicht alles, aber sehr vieles dreht. Der Kölsche Karneval ist ein Phänomen, das für Nichtrheinländer nur schwer zu verstehen ist. Er ist eine Lebenseinstellung, Brauchtum, aber dahinter steckt noch viel mehr. Der Karneval ist immer präsent in Köln, selbst im Hochsommer. Man kann sich an einem Tag wie heute auf einen beliebigen Platz stellen und ein Karnevalslied anstimmen, von den Bläck Fööss oder den Höhnern, und nach spätestens fünf Minuten steht eine ganze Menschentraube schunkelnd und singend zusammen und nimmt sich eine kleine Auszeit vom Alltag. Kölner Karneval reißt mit, das ist einfach so. Aber das ist nicht alles. Menschen wie mein Mann, Exmann, an diese Bezeichnung muss ich mich noch gewöhnen, definieren sich über die Zugehörigkeit zu einer der vielen Karnevalsgesellschaften der Stadt. Dazu gehören und sogar Mitwirken in der Organisation einer solchen Gemeinschaft bedeutet gesellschaftliches Ansehen. Prestige, Macht, Geld. Die Krönung ist: „Einmal Prinz sein“, und man schöpft natürlich aus den Möglichkeiten des Netzwerkens, die eine solche Zugehörigkeit bietet. Für Reinhard wäre es nie in Frage gekommen, einen Anwalt zu nehmen, der nicht Mitglied in seiner Karnevalsgesellschaft ist. „Brauchtum verbindet, Carla“, hat er in den letzten Jahren oft gesagt, „aber das wirst du nie verstehen.“

Ich habe wohl sehr vieles nicht verstanden, in den letzten Jahren. Manchmal frage ich mich, ob ich diesen Mann, der zehn Jahre lang mein Ehemann war, überhaupt jemals wirklich verstanden habe.

Wir stehen auf dem Gang, Frau Weyers und ich. Sie trägt ihre Aktenmappe mit all den wichtigen Unterlagen, die das Ende meiner Ehe dokumentieren. Ich habe nur meine kleine Handtasche unter dem Arm. Ich brauche ja nichts außer meinem Ausweis, meinem Portemonnaie, eine Packung Tempotaschentücher und meine bereits ausgedruckte Rückfahrkarte nach Berlin, in ein Leben als Single. Vierzig, geschieden, alleinstehend.
Mein neues Leben.

„Geht’s Ihnen halbwegs, Frau Beckers? Soll ich Ihnen einen Kaffee besorgen oder lieber ein Glas Wasser?“ Ich fühle mich wie ein Roboter oder wie ein Käfer im Spinnennetz. Gefangen, unfähig mich zu bewegen oder zu äußern. Ich muss mich zusammenreißen. Dieser Abschnitt meines Lebens ist vorbei. Für Reinhard noch viel mehr als für mich. Er ist tatsächlich eben an mir vorübergegangen, mit einem leichten Kopfnicken in meine Richtung, ohne dabei das Gespräch mit seinem Anwalt zu unterbrechen, in dem es um wesentlich wichtigere Dinge geht als um das Ende seiner Ehe.

Eigentlich sollte ich froh sein, diesen Menschen losgeworden zu sein, der mich ganz offensichtlich schon völlig aus seinem Leben gestrichen hat, der sich keine zehn Minuten nach dem Richterspruch schon wieder mit dem Budget für die Sitzungen der kommenden Session befasst.

Und ich? Ich bin jetzt gerade in Trauer, definitiv. Aber ich trauere nicht so sehr um diesen Mann, sondern um den gescheiterten Lebenstraum. Bislang hatte ich dieses Gefühl nicht, sehr zur Verwunderung meines Coaches in Berlin. „Diese Trennung und Scheidung, das sind Teile Ihres Lebens, Frau Beckers, die dürfen Sie nicht wegschließen in irgendwelche entlegenen Schubladen Ihres Denkens, lassen Sie diese Gefühle zu, nur so können Sie sich auf Dauer von ihnen befreien.“

Gut, ich werde die Gefühle zulassen, sobald ich gleich wieder allein auf der Straße stehe. Frau Weyers reicht mir einen Plastikbecher voll Wasser. „Trinken Sie, das wird Ihnen guttun.“ Ich bedanke mich, trinke. „Kann ich Sie gleich allein lassen? Ich habe in einer Viertelstunde den nächsten Termin.“

Natürlich kann sie. Ich brauche keinen seelischen Beistand. Mir ist es sogar lieber, wenn keiner mehr um mich herumwuselt, mich zu betüddeln versucht. Es ist mein Leben, das gerade in Scherben liegt, niemand anders hat damit wirklich etwas zu tun.

Ich stehe auf der Straße. Endlich allein. Um mich herum geschäftige Menschen, die alle etwas zu tun haben. Termine, Gerichtsverhandlungen, Beteiligte in einem Prozess oder vielleicht auch einfach nur Zuhörer. Nicht in einem Scheidungsverfahren, das ist ja nicht öffentlich. Hier sind viele Gerichte in einem Gebäude zusammengefasst: Arbeitsrecht, Strafrecht, Zivilrecht. Immer geht es darum, dass Menschen mit ihren Problemen nicht allein fertigwerden und zu ihrer Lösung eine staatliche Instanz brauchen. Oder sie haben gegen eine Norm verstoßen und müssen dafür abgeurteilt werden. Oder sie haben ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen und erhalten dafür nun die amtliche Quittung. So wie ich.

Welch ein Blödsinn, Carla! In meinem Gehirn schaltet sich gerade die interne Therapeutin zu, quasi die verlängerte Stimme meines Coaches. Wir waren doch schon viel weiter gekommen. Du hast nicht die Quittung für dein Scheitern bekommen, sondern im Gegenteil, du bist ganz offiziell befreit worden von einer Bürde, die dich daran gehindert hat, deinen Weg weiter zu gehen, in eine Richtung, die du selber bestimmst. Reinhard passte nicht mehr in dein Leben, genauso wenig wie du in seins gepasst hast. Ein Stückweit seid ihr zusammen gegangen, nun haben sich eure Wege wieder getrennt. Was ist schon dabei, so what? Und letztlich, andere Mütter haben auch schöne Söhne.

Unvermittelt hält ein Taxi vor mir. Ein gemütlicher, älterer Fahrer lässt die Scheibe auf der Beifahrerseite herunter. „Kann ich Sie irgendwohin bringen, junge Frau?“ „Sehr gerne.“ Sonst stehe ich in einer Stunde immer noch wie festgewachsen hier am Straßenrand. Aber wohin? Es ist gerade Mittagszeit, der endlos lange Nachmittag liegt noch vor mir.

„Bringen Sie mich einfach ins Zentrum, in die Nähe vom Dom.“

Die Fahrt dauert nur wenige Minuten, von denen wir die meisten vor roten Ampeln verbringen. Zum Glück merkt der Fahrer, dass mir nicht nach Small Talk zumute ist und lässt mich in Ruhe. Vielleicht gabelt er ja öfter verloren vor dem Gericht stehende Frischgeschiedene auf.

Dann stehe ich auf der Domplatte, diesem großen Platz vor dem Wahrzeichen der Stadt. Es wimmelt von Touristen, Reisegruppen voller fröhlicher Menschen und so dauert keine Minute, bis mir ein japanisches Pärchen seine Kamera in die Hand drückt. „Photo, please!“ Sie strahlen in die Kamera, unbeschwert, glücklich. In ein paar Wochen, wieder zu Hause angekommen, werden sie die Fotos sichten und sich erinnern. „Weißt du noch, das war diese dunkelhaarige Frau vor dem Dom, die hat uns geknipst. War das nicht ein wunderschöner Tag?“

Ansichtssache.............................................